Begegnungen des Anderen im Eigenen

Torsten P Bruchs dekonstruktive Rollenspiele und Selbstbefragungen

Ein Text von Belinda Grace Gardner.

Der Mensch ist ein Haus, mit geheimen Kammern, verborgenen Winkeln und überraschenden Blickachsen, die unerwartete Ansichten offenbaren. In einer seiner frühesten Installationen, Familienhaus von 1998, hat Torsten P Bruch ebenjenes im Modell nachgebaut und als „Erinnerungswerkzeug für Familiengeschichte“ in den Raum gestellt. Das vergrößerte Abbild eines Fensters diente als Hintergrund für einen Schattenriss des Künstlers, der seinerseits als zweidimensionales Gefäß für Fotos von diversen Familienangehörigen fungierte. Schon in dieser biografischen Arbeit, zu der eine mobile Miniaturplattform mit Einmachgläsern unterschiedlichen Inhalts gehörte, hat sich Bruch selbst beziehungsweise seinen Körper zu einem zentralen Schauplatz des Geschehens gemacht. Hier repräsentiert er sich noch in schemenhaft-zeichenartiger Andeutung. Wie eine Chiffre verweist seine Silhouette auf einen vielschichtigen menschlichen Kosmos, in dem familiäre und gesellschaft-liche, psychologische, kulturelle und zeitgeschichtliche Einflüsse zusammenfließen. Die Untersuchung des Anderen im Eigenen mittels verschiedener Strategien des Rollenspiels und der Selbstbegegnung durch Verdopplung und Vervielfältigung ist ein zentrales Motiv seines mehrsträngigen, Medien übergreifenden Ansatzes, der (interaktive) Installationen, Skulpturen, Filme, Body Art und Performances vereint.

Immer wieder hat sich Torsten P Bruch selbst dupliziert: etwa als leicht monströses Baby, das in Autorerotik mit Selbstportrait von 1999 im Doppelgängermodus auftritt. In der dreiteiligen Installation Auto-Single von 2004 formt er sich in Fragmenten aus brüchiger Baiser-Masse nach und tritt parallel in Gestalt mehrerer Musizierender eines Geisha-Orchesters auf, das vom Video aus dem wie ein archäologisches Fundstück anmutenden Selbstbildnis des Künstlers ein Konzertständchen bringt. Drei gefilmte Selbstportraits, aufgenommen im Juli 2006 aus der Distanz einer Armlänge, werden als Triptychon vereint zur Auto Chronographe, die ihm die eigene Fremdheit vor Augen führt, beziehungsweise die Unmöglichkeit der eigenen, stets im Fluss befindlichen Identität verbindlich habhaft zu werden. In dem gut halbstündigen Film Blaubart (nach dem Theaterstück „Blaubart – Hoffnung der Frauen“ von Dea Loher) wiederum hebt der Künstler die Grenzen zwischen Selbst und Anderem vollständig auf. Denn in dieser Fassung des Stoffs verkörpert er sowohl den Mörder Blaubart als auch die ihn liebenden sieben Frauen, die Blaubart allesamt bis auf eine umbringt. Diese tötet schließlich Blaubart, eine komplexe Vertauschung von Täter- und Opferrolle. In Bruchs Worten: „Der Frauenmörder wird zum Selbstmörder. Die dramatische Auflösung kehrt zu ihrer ursprünglichen Matrix zurück.“

Die männliche und weibliche Elemente sowie sexuelle und mechanistische Funktionsweisen verschmelzende „Junggesellenmaschine“, wie sie prominent von Marcel Duchamp ausgeformt wurde, zieht sich als zentrale Figur durch die Arbeiten des Künstlers, der wiederholt die Gender-Grenzen spielerisch überwunden und unter anderem im Rahmen der Performance Für Aurora (2002) das Gemälde der Gräfin Maria Aurora von Königsmarck in maßgeschneidertem historischen Samtgewand personifiziert hat. Sexualität als Wechselspiel von weiblichen und männlichen Kräften kam in Kampf der Geschlechter (2001), bestehend aus riesigen Stoffobjekten in Gestalt von femininen und maskulinen Geschlechtsorganen, mit der die Betrachter gegeneinander antreten konnten, ebenso zum Tragen wie in der raumgreifenden Video- und Toninstallation Come Close Space, realisiert im Juni 2006 im Le Fresnoy-Studio National des Arts Contemporains, Frankreich. Hier hat Bruch eine regelrechte Sitz- oder Liegelandschaft aus golden bezogenen Polstermobiliar geschaffen, in denen das Publikum, je nach Position, eine weibliche und eine männliche Seite in entsprechenden Projektionen zu sehen bekam: Auf der einen agierte eine Frau, auf der anderen ein Mann. Es ging dabei um Versuche der Annäherung und gegenseitigen Berührung, die zunächst im Raum der Bilder an scheinbar unüberwindbare Grenzen zwischen beiden „Welten“ – Mann/Frau, Kunst/Leben – stießen. Zuletzt deutete ein Kuss auf die mögliche Auflösung der Barrieren zwischen femininem und maskulinem Terrain, Bild und Wirklichkeit.

Der Aspekt der Publikumsteilnahme, in diesem Fall durch Platzierung der Betrachtenden buchstäblich inmitten oder zwischen den beiden Zonen der Handlung, ist ein weiteres wiederkehrendes Moment im Werk des Künstlers. Wir finden es beispielsweise in humorvoll-bedrohlicher Form bereits in der Masochistischen Dienstleistungsinstallation von 2000, in welcher der Künstler, flankiert von dem erwähnten Baby-Selbstbildnis und einem skulpturalen Mischwesen aus Ton (Domina Lady), das die „besonderen Vorzüge von acht verschiedenen Frauen“ (Bruch) einte, Interessenten für die Dauer der Aktion eine Massage erteilte. Für Umarmung (2000) hat Bruch Kastenobjekte gefertigt, in die Passanten am Hauptbahnhof Braunschweig mit dem Kopf eintauchen und sich visuell von Mann, Frau oder einem Paar umfangen lassen konnten. Und in Küss mich aus dem Sommer 2002 hat der Künstler antizyklisch über einem Podest einen Mistelzweig drapiert. Ovale Selbstportraits, die im Kreis um das Podest in der Luft schwebten, zeigten Bruchs Antlitz in mimischer Metamorphose von ernst bis traurig, verwundert bis heiter. Vom Radius her war ein Küssen der Portraits kaum möglich, es sei denn, man hätte sich darin im freien Fall versucht.
Als Hauptthema des Künstlers bleibt – aller Vielfalt seiner Verfahren zum Trotz – die Auseinandersetzung mit der Auslotung und Aufhebung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen, dem Ich und dem Gegenüber bestehen. Dass dieses Andere auch in der Selbstbegegnung entdeckt und zur Anschauung gebracht werden kann, machen seine Arbeiten intensiv erlebbar. Doch verhandelt er in seinen von groteskem Witz durchwirkten dekonstruktiven Rollenspielen stets auch das Problem des Scheiterns von Annäherungen – ob es um Selbsterkenntnis, Geschlechterdifferenzen, oder gar um die Möglichkeit zwischenmenschlicher Verschränkung durch Freundschaft und Liebe geht. Inwieweit sich das Individuum mit seinen Widersprüchen und schillernden Facetten, seinen männlichen und weiblichen Anteilen und seiner Fülle an Eigenschaften jemals erschöpfend selbst zu erkennen vermag, lässt Torsten P Bruch als nachhaltige offene Frage im Raum stehen.

Belinda Grace Gardner, Hamburg, 2009