Nie allein

Nie allein

Torsten Bruchs Choreographien der Selbst-Erkundung und Ich-Erweiterung

Die Figur des Doppelgängers, der Doppelgängerin hat in der Schwarzen Romantik ab 1800 Konjunktur: als Auslagerung und Abspaltung der dunklen Schat­tenseiten des Individuums ebenso wie als Befrei­ungsschlag aus dem Korsett rigider Verhaltensnor­men. Auch als zeiten- und kulturübergreifende Gestalt des Clowns oder Narrs, der – wie in der An­fangskarte des Tarots – den Fuß in die Luft setzt, auf dass diese tragen möge, ist sie unterwegs.

Im Werk des Hamburger Medien- und Installationskünstlers Torsten Bruch (*1973, Hannover) sind Doppelgänger*innen seit 2004 wiederkehrende Er­scheinungen. Weniger unheimlich als pikaresk, we­niger dämonen- als elfenhaft tauchen sie als leicht­füßige Ausdehnungen des Ich auf: Rollenspieler*innen in einem Lebensstück, die die Erprobung vieler verschiedener Seiten des Seins gestatten. Seit Beginn seiner Laufbahn schöpft Bruch aus der Per­formance. Zwischen Skulptur, Installation, Videobil­dern, realen und virtuellen Räumen agierend, setzt er die Vervielfältigungsstrategie des Individuums in kollektiver Addition als Methode der Selbsterweite­rung und nicht zuletzt auch der Selbstbegegnung ein, die indes immer wieder scheitert. Denn seine Repliken reagieren nicht auf die freundlichen Annä­herungen seiner selbst aus parallelen Wirklichkei­ten. Sie sind auf eigenen Bahnen (und Beinen) un­terwegs, so dass sich die Routen stets nur beinahe kreuzen. So bleibt das performativ vorangetriebene Treffen mit der eigenen Person ein offenes Work-in-Progress, das immer wieder vor Augen geführt wird, letztlich aber ein Ding der Unmöglichkeit bleibt, zumindest für den Moment. Bruch bezeichnet sich selbst als Videoperformer und Bildhauer. Aber er ist zugleich auch Regisseur, Gestalter und Bühnenbil­der, Akteur*in, Chorsänger*in, Sportler*in und Erforscher*in kosmischer Welten.

Die Reduplikatio­nen des Künstlers umfassen männliche wie weibli­che, vegetabile und auch animalische Protagonist*innen: von der Geisha bis zum zünftigen Leder­hosenträger (so etwa auch 2010 als Pappaufsteller mit Sprechblase zum Selbstausfüllen unter dem Titel „Make your own Torsten“ realisiert), von der Ro­mangestalt bis zum Magier oder Astronauten, vom tanzenden Gemüse bis zur Qualle. Anders als die oft alptraumhaft-düsteren Doppelgänger*innen des romantischen Schriftstellers und Meister des Schau­er-Genres, E. T. A. Hoffmann (1776–1822), sind die von Bruch in Szene gesetzten Kopien des eigenen Ich tendenziell heitere Erkunder:innen mannigfaltiger Seinszustände: Es sind gewissermaßen Selbsterfah­rungsgruppen in Personalunion. Denn auch darum geht es: um Rollenwechsel, die dem Künstler wie im Schauspiel die Möglichkeit geben, Existenzwei­sen zu erproben, die sonst nicht gegeben wären, bis hin zur Verkörperung eines »nicht-organischen« Möbelstücks: dem ikonischen Billy-Regal des schwe­dischen Einrichtungshauses IKEA.

Zu seinen jüngsten Choreographien der Selbst-Reflexion und Ich-Erweiterung gehören die in Saar­brücken vereinten Arbeiten „Ping-Pong“ (5-Screen-Videoinstallation, 2016), „Billy“ (neunteilige Serie von Fotos nach Live-Performances in der niederländi­schen Stadt Groningen, 2018), „Space Station“ (6-Screen-Videoinstallation, 2021) und „Under the Sea“ (digitale Collage/Videoprojektion, 2022). Ping-Pong zeigt auf fünf im Kreis angeordneten Bildschir­men ein Ping-Pong-Spiel zwischen mehreren Einzel­personen (Bruch in verschiedenen Kostümierun­gen), die den Ball jeweils mit ihrem Schläger an den nächsten Spieler weitergeben. Alle Bildschirme ste­cken in Gehäusen, die zusammengenommen die »Geschichte der laufenden Bilder« (Bruch) an den Orten ihres Auftretens erzählen, beginnend mit Ki­no und Leuchtreklame bis hin zu Fernsehbildschirm, Computer und Handy. Kleidungsdetails des Akteurs verweisen zusätzlich auf das »Alter« der jeweiligen Medien, deren visuell-mediale Paradigmenwechsel so auf mehreren Ebenen zum Tragen kommen: Die skulpturale Formgebung folgt dabei der Verknüp­fung der filmischen Sequenzen. Die Fotoserie Billy beruht wiederum auf Performances, in deren Verlauf Bruch buchstäblich ins gleichnamige Regalsystem beziehungsweise eine Nachbildung dessen einge­stiegen ist und sich damit verbunden hat. Man kann sich die Überraschung ahnungsloser Einkaufender in der IKEA-Filiale in Groningen nur vorstellen, als sie plötzlich ein belebtes Regal vor sich hatten, aus dem Bruchs Antlitz herausblickte.

Mit der Installation Space Station hat der Künstler nun eine ganze Raumstation mit Verbindungstun­neln kreiert, durch die sich Astronauten (allesamt Vervielfältigungen des Künstlers) schwerelos bewe­gen, bevor sie um Ecken biegend verschwinden oder aus unsichtbaren Winkeln wieder auftauchen. Die skulpturale Einfassung, die die sechs Bildschir­me – vier Quer- und zwei mittig angeordnete Hoch­formate – umrandet, ist der ISS-Station nachemp­funden. Planetengeräusche der NASA, verbale Apol­lo-17-Sequenzen sowie gesampelte CB-Funk-Mit­schnitte aus dem Internet bilden den spacigen Soundtrack, der die optische Low-Tech-Ästhetik (die Raumstationsmodule bestehen aus Pappe und Holz­stäben, die Raumfahrer gleiten tatsächlich auf fes­tem Grund auf einem Rollbrett) im High-Tech-Ambi­ente konterkariert. In seinem »Astronautenballett«, wie Bruch den Reigen der Raumfahrer treffend nennt, wird nochmals die Präzision seiner choreo­graphischen Versuchsanordnungen greifbar. In sei­ner aktuellsten Arbeit Under the Sea (2022) – produ­ziert als Projektion für einen Brunnen in Japan, wo er schon häufiger auf Einladung von Institutionen künstlerische Projekte umsetzte – bringt er im trans­parenten Folienkostüm die Unterwasserwelt von Quallen in verschiedenen Varianten mit lebensech­ter Anmut zur Anschauung. Der besondere Zauber dieser Arbeit basiert, wie das gesamte Schaffen von Bruch, auf einer Kombination technisch höchst kom­plexer Verfahren und märchenhaft-spielerischer Ide­enfülle: eine Magie, die an Gerdt Bernhard von Bassewitz‘ „Peterchens Mondfahrt“ (1912) oder Antoi­ne de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ (1943) ebenso denken lässt wie an die ornamentalen Wasserbal­lett-Synchronisationen in Filmen der 1940er- und 1950er-Jahre, aber auch Stoffe aus Literatur, Film, Musik, Science-Fiction und Alltag neueren Datums evoziert. In seiner harlekinischen Ausweitung des Denkbaren macht Bruch die Wunder unserer Welt und die Kraft der Imagination sichtbar: immer auf der Suche nach dem »Anderen« im Eigenen, den noch unentdeckten Aspekten, Optionen und Mani­festationen des Selbst.
Dr. Belinda Grace Gardner (2022)